Funktionsdiagnostik statt Zufallsmedizin
Medizinisches Seminar: Funktionsdiagnostik statt Zufallsmedizin
Wie wir lernen können, die Sprache der Regulation zu messen
Viele chronisch erschöpfte oder „nicht greifbare“ Patient:innen stellen uns heute vor dieselbe Frage: Wo genau liegt der Engpass?
Ist es das Immunsystem? Das Nervensystem? Der Stoffwechsel? Oder die kleinsten Gefäße, die den Körper versorgen?
Die klassische Labormedizin kann vieles sichtbar machen – aber sie misst fast immer nur den Zustand, nie die Fähigkeit zur Veränderung.
Die funktionelle Medizin dagegen interessiert sich für das „Wie reagiert das System?“ – also für den lebendigen Teil der Regulation.
Warum funktionelle Marker unverzichtbar werden
Ein Mensch kann viele unauffällige Laborwerte haben – und sich dennoch völlig erschöpft fühlen.
Das liegt daran, dass zwischen Struktur und Symptom eine funktionelle Ebene liegt: die Fähigkeit des Körpers, dynamisch zu reagieren, auszugleichen und zur Ruhe zu kommen.
Diese Fähigkeit lässt sich nicht durch einzelne Blutwerte abbilden, sondern durch dynamische Messverfahren, die zeigen:
„Wie lebendig antwortet das System auf eine kleine Herausforderung?“
Solche Tests werden zu einer Art Regulations-Seismografen. Sie zeigen frühzeitig, ob eine Achse blockiert ist – lange bevor manifeste Erkrankungen entstehen.
Die drei feinsten Systeme, die diese Sprache messen können
Endothelfunktion – die Reaktion der Gefäße
Das Endothel ist die hauchdünne Zellschicht an der Innenseite aller Blutgefäße.
Es reagiert sensibel auf jeden Reiz – Stress, Ernährung, Entzündung, Hormone.
Wenn man den Blutfluss kurz unterbricht (z. B. am Arm) und dann wieder freigibt, zeigt sich, wie stark sich die Gefäße erweitern können.
Diese Erweiterung hängt vom Botenstoff Stickstoffmonoxid (NO) ab – einem Schlüssel für Durchblutung, Sauerstoffversorgung und Zellstoffwechsel.
Gemessen wird: die Durchmesser- oder Flussänderung einer Arterie nach kurzer Stauung (z. B. per Duplex-Ultraschall).
Was sie zeigt:
- ob das Endothel gesund reagiert oder erschöpft ist,
- ob oxidativer/nitrosativer Stress (reaktive Moleküle, die NO „auffressen“) den NO-Weg blockiert,
- wie rasch Therapien wie Vitamin C, Citrullin, Antihistaminika oder Atemübungen wirken.
Warum sie so wertvoll ist: Das Endothel reagiert in Minuten auf innere Zustände – es ist das schnellste Frühwarnsystem der Mikrozirkulation.
Herzratenvariabilität (HRV) – der Atem des Nervensystems
Jeder Herzschlag ist anders. Diese feinen Schwankungen – die HRV – sind das Spiegelbild des vegetativen Nervensystems.
Wenn der Vagusnerv (unser „Beruhigungsnerv“) frei schwingen darf, zeigt die HRV ein lebendiges, flexibles Muster.
Bei Dauerstress, Entzündung oder Erschöpfung wird das Herz monoton – die Variabilität sinkt.
Gemessen wird: mit einem kleinen EKG-Recorder, meist 5 Minuten in Ruhe oder während ruhiger Atmung (6 Atemzüge/Minute).
Was sie zeigt:
- wie gut sich Körper und Psyche entspannen können,
- ob der Sympathikus (Stressnerv) überaktiv ist,
- ob eine Maßnahme (z. B. Atmung, Infusion, Meditation) den Vagus wirklich stärkt.
Warum sie so fein reagiert: Das vegetative Nervensystem reagiert innerhalb von Sekunden – oft bevor der Mensch selbst etwas spürt.
HRV ist damit der ideale „Online-Sensor“ für Regulation und Selbstheilungskraft.
3-Minuten-Step-Test ± Laktat – die Umsetzung im Gesamtsystem
Während das Endothel die Zufuhr misst und die HRV die Steuerung beschreibt, zeigt ein drittes System, wie gut der Körper Energie tatsächlich umsetzt.
Mit einem standardisierten Stufentest (3 Minuten Stufensteigen) lässt sich beobachten,
- wie stark der Puls unter Last ansteigt,
- wie schnell er sich nach 1 Minute wieder erholt (HRR = Herzfrequenz-Erholung),
- und – optional – wie sich das Laktat (Zwischenprodukt des Zuckerstoffwechsels) im Kapillarblut verhält.
Gemessen wird: Pulsverlauf, HRR-1′ (Schläge/Minute, die der Puls in der ersten Minute sinkt), optional Kapillar-Laktat 1–3 Minuten nach Belastung.
Was es zeigt:
- Kreislauf- und Atem-Reserve (Pulsanstieg),
- autonomen Reset (HRR = Vagus übernimmt wieder),
- mitochondriale Effizienz/metabolische Flexibilität (Laktatniveau).
Warum es so wertvoll ist: Der Step-Test liefert ein Makro-Signal: Wie gut arbeitet Herz-Lunge-Muskel zusammen – und wie schnell findet das System zur Balance zurück?
Wie diese Systeme zusammenwirken
| Ebene | System | Reaktionszeit | Bedeutung |
|---|---|---|---|
| Gefäß | Endothelfunktion | Minuten | Versorgung & Durchblutung (Zufuhr) |
| Nervensystem | HRV | Sekunden | Steuerung & Anpassungsfähigkeit |
| Gesamtsystem | Step-Test ± Laktat | Minuten | Umsetzung & Leistungsreserve (Output) |
Gemeinsam ergeben sie ein Bild der gesamten Regulation:
- Wie gut wird Sauerstoff geliefert?
- Wie fein kann das Nervensystem steuern?
- Wie effizient nutzen die Zellen die Energie?
Wenn eine Ebene blockiert ist, verändert sich das Muster aller drei – und so lässt sich erkennen, wo der Engpass liegt.
Dynamische Provokation – wie man die Antwort des Systems prüft
Anstatt nur in Ruhe zu messen, kann man die Systeme gezielt stimulieren – ähnlich wie in der Sportphysiologie oder Endokrinologie:
Beispiele für Provokationen:
- Vitamin C oder NAC: mindern oxidativen/nitrosativen Stress
- Citrullin: liefert NO-Substrat
- Atmung / Meditation: stärkt den Vagus
- Antihistaminikum: prüft Mastzellaktivität
- Ernährungs- oder Fastenphase: testet Entzündungs-/Stoffwechseleffekte
- 3-Minuten-Step-Test: setzt das Gesamtsystem unter eine kleine, definierte Last
Was man sieht: Reagiert das System deutlich, ist die angesprochene Achse relevant.
Bleibt die Reaktion aus, liegt der Engpass woanders.
So entsteht eine funktionelle Landkarte der Regulation – ein Werkzeug, das zeigen kann, welche Therapierichtung beim einzelnen Menschen wirklich wirkt.
Warum sich der Aufwand lohnt
- Frühwarnung: Funktionsstörungen zeigen sich, bevor Labore auffällig sind.
- Individualisierung: Jeder Mensch reagiert anders – diese Tests machen es sichtbar.
- Evidenz für Ganzheit: Endothel, Nervensystem und Stoffwechsel sind ein Netzwerk, nicht Inseln.
- Praktikabilität: Mit Duplex-Gerät, HRV-Recorder und einem Step-Test ± Laktatgerät entsteht ein komplettes Regulations-Profil – praxistauglich und kosteneffizient.
Zusammengefasst
FMD misst die Fähigkeit der Gefäße, sich zu öffnen (Zufuhr).
HRV misst die Fähigkeit des Nervensystems, zu balancieren (Steuerung).
Step-Test ± Laktat misst die Fähigkeit des Gesamtsystems, Energie umzusetzen (Output).
Gemeinsam bilden sie den vielleicht feinsten Spiegel der Lebendigkeit, den wir derzeit praxisnah messen können –
einen Spiegel, der auf Therapie, Stress oder Ernährung in Echtzeit reagiert und hilft, den wahren Engpass funktioneller Gesundheit zu finden.
Funktionelle Regulationsdiagnostik – Praxisleitfaden
Funktionsdiagnostik statt Zufallsmedizin
Viele chronisch erschöpfte oder „nicht greifbare“ Patient:innen stellen dieselbe Frage: Wo genau liegt der Engpass? Ist es das Immunsystem, das Nervensystem, der Stoffwechsel – oder die kleinsten Gefäße?
Klassische Labore zeigen meist nur den Zustand. Was uns fehlt, ist der Blick auf die Fähigkeit zur Reaktion: Wie gut kann der Körper Gefäße öffnen, Stress herunterregeln, Sauerstoff nutzen?
Praktikabel, feinfühlig und komplementär
🩸 Endothelfunktion (FMD / Duplex) Gefäßebene
Was wird gemessen? Die Fähigkeit der Gefäße, sich über den Botenstoff NO (Stickstoffmonoxid) nach einem kurzen Flussreiz zu erweitern.
Wie wird gemessen? Unterarm 5 Min. stauen (200–220 mmHg), dann per Ultraschall Durchmesser- und Strömungsänderung (A. brachialis) vor/nach Entlastung erfassen. Ergebnis u. a. als FMD % und Flow-Ratio.
Warum fein? Das Endothel reagiert in Minuten auf oxidativen/nitrosativen Stress, NO-Substrat, Entzündung, Mastzellmediatoren und Autonomik. Es ist das Frühwarnorgan der Mikrozirkulation.
- Reaktionszeit: Minuten
- Typische Reize: Vitamin C, L-Citrullin, NAC, Antihistaminikum, Atemübung
- Zeigt: Versorgung & Durchblutung (Zufuhr)
💓 Herzratenvariabilität (HRV) Autonome Ebene
Was wird gemessen? Die feinen Schlag-zu-Schlag-Schwankungen des Herzrhythmus – Spiegel der Balance aus Sympathikus (Anspannung) und Vagus (Beruhigung).
Wie wird gemessen? 5-Minuten-EKG in Ruhe (z. B. RMSSD, HF-Power, LF/HF), optional mit ruhiger Atemführung (6 Atemzüge/Minute).
Warum fein? Das vegetative Nervensystem reagiert in Sekunden. HRV ist der „Online-Sensor“ der Regulation und zeigt sofort, ob ein Reiz wirklich entspannt.
- Reaktionszeit: Sekunden–Minuten
- Typische Reize: Atemlenkung, Meditation, Musik, Infusion
- Zeigt: Steuerung & Anpassungsfähigkeit
🏃 3-Minuten-Step-Test ± Laktat Makro-System
Was wird gemessen? Die gemeinsame Reaktion von Herz-Kreislauf, Lunge und Muskelstoffwechsel auf eine kleine, standardisierte Belastung.
Wie wird gemessen? 3 Minuten Stufensteigen (z. B. 30 cm, 24 Stufen/Min.). Pulsverlauf, Herzfrequenz-Erholung nach 1 Min (HRR-1′) und optional Kapillar-Laktat 1–3 Min post.
Warum fein? Liefert ein Makro-Signal zur Umsetzung: Wird Sauerstoff effizient genutzt? Greift der vagale Reset schnell?
- Reaktionszeit: Minuten
- Typische Reize: Bewegung, Ernährungs-/Therapie-Wochen
- Zeigt: Umsetzung & Leistungsreserve (Output)
🔄 Zusammenspiel & Ergänzung
FMD zeigt, wie gut die Zufuhr funktioniert (Durchblutung/NO). HRV zeigt, wie fein die Steuerung reagiert. Der Step-Test zeigt, wie kraftvoll das System die Energie umsetzt. Zusammen entsteht ein klares Bild, wo der Engpass liegt.
| Kombination | Interpretation |
|---|---|
| FMD + HRV | NO-Mangel vs. Stressbremse unterscheiden |
| HRV + Step-Test | Zentrale vs. periphere Erschöpfung erkennen |
| FMD + Step-Test | Zufuhr- vs. Nutzungs-Limitierung abgrenzen |
| Alle drei | Vollständiges Regulations-Profil („Global Response“) |
Gezielt stimulieren, präzise beobachten
Wir setzen kleine, sichere Reize und messen unmittelbar davor/danach. Reagiert das System deutlich, ist die angesprochene Achse relevant – und die Therapierichtung gewinnt an Wahrscheinlichkeit.
| Reiz / Intervention | Erwartete Antwort | Empfindlichster Marker | Wofür gut? |
|---|---|---|---|
| Vitamin C i.v. (≈7,5 g) | Oxidativer/nitrosativer Stress ↓, NO stabiler | FMD ↑ · HRV ↑ | Oxidativ-/NO-Pfad prüfen |
| L-Citrullin 3 g p.o. | NO-Substrat ↑, Gefäßweite ↑ | FMD ↑ | NO-Kapazität/Metabolik |
| Atemlenkung (6 Atemzüge/Min.) | Vagus ↑, Tonus-Reset | HRV ↑ · Flow ↑ | Autonome Bremse detektieren |
| Antihistaminikum p.o. | Mastzell-Mediatoren ↓, Gefäßstabilisierung | FMD ↑ | MCAS-Anteil sichtbar machen |
| 3-Minuten-Step-Test (Basis) | Makro-Belastung/Erholung | HRR-1′ · Laktat | Gesamt-Umsetzung & Reserve |
Ergebnis: „Achsen-Fingerprint“ + direkte Therapie-Hinweise.
Warum sich der Ansatz lohnt
- Frühwarnung: Funktion kippt, bevor Strukturen/Labore es zeigen.
- Individualisierung: Vor/Nach-Vergleiche zeigen, was diesem Menschen hilft.
- Ganzheit: Endothel, Autonomik und Stoffwechsel als Netzwerk statt Inseln.
- Kosteneffizienz: Duplex + HRV + Step-Test ± Laktat decken die meisten Fragen ab.
- Verlauf: Gleiche Messung – klare Trends über Wochen.
Standardisierte Durchführung (Kurzfassung)
- Setup: Raum 22–24 °C, nüchtern ≥4 h, kein Koffein/Nikotin 12 h, 10 Min Ruhe.
- FMD-Screening: Baseline D₀/TAMV₀ → 5 Min Unterarm-Stauung → Deflation → V₁ in 0–20 s, D₁ in 40–120 s → FMD %, Flow-Ratio.
- HRV-Ruhe: 5 Min (RMSSD, HF-Power, LF/HF), optional mit ruhiger Atmung.
- Optionaler Reiz: z. B. Vitamin C, Citrullin oder Atemübung → Wiederholmessung nach 15–60 Min.
- Step-Test: 3 Min standardisiert; Puls direkt nach + nach 1 Min (HRR-1′); optional Kapillar-Laktat.
- Interpretation: Zufuhr (FMD) – Steuerung (HRV) – Umsetzung (HRR/Laktat) zusammenführen → Engpass ableiten.
Tipp: Für Serienmessungen immer gleiche Tageszeit, gleiche Cuff-Position und identisches Protokoll verwenden.
